Es sind der Mut und die Aufrichtigkeit, die mich von Anfang an beeindruckten, als ich vor drei Jahren zum ersten Mal in den Blog Kaiserinnenreich von Mareice Kaiser eintauchte. Gemeinsam mit ihrem Mann Thorben erlebt die Berliner Journalistin das, wovor sich wohl die meisten Eltern insgeheim fürchten, das, was sich niemand vorstellen mag. Denn da gibt es eine Wahrscheinlichkeit. Sie ist verdammt gering, aber sie kann eintreten.
Eine Ärztin wird den seltenen Gen-Deffekt später als "extrem besonders" benennen: Greta, die erste Tochter von Mareice und Thorben, kam im Jahr 2011 mehrfach behindert zur Welt. Nach einigen Jahren des darüber Bloggens, zahlreichen Interviews und Artikeln über Inklusion hat Mareice nun ein Buch über ihre sehr persönliche Geschichte geschrieben: Alles inklusive erschien am 24. November im S. Fischer Verlag. Aus Sicht einer, die auch schreibt, ein mutiger, wie logischer Schritt. Das Darüber-Schreiben kann eine Art heilendes Selbstgespräch werden, ein Ordnungsapparat für aufgescheuchte Gefühle und Gedanken.
Wir alle spielen eine Rolle Doch so sehr die Geschichte von Mareices Familie in erster Linie eine persönliche und damit einzigartige ist, so sehr ist sie genauso auch unsere. Denn wir alle spielen darin eine große Rolle. Denn Du, ich und wir alle – wir sind die Anderen: die Freunde, die Familie, die Bekannten, die Ärzte und Kollegen, wir sind die viel gestressten Kindergarteneltern, die neugierigen Passanten in der Eisdiele, die verstohlen Blickenden auf dem Spielplatz und die überforderten Krankenschwestern, wir sind die Fans und die Trolls, die Therapeuten, Krankenkassen-Sachbearbeiter, Apotheker, Polizisten und Pädagogen. Wir sind die Gesellschaft, die es oft nicht schafft, eine solche Geschichte auch als die ihre anzunehmen. Und diese Geschichte mit ihren Protagonisten in unsere Mitte zu integrieren. Wir sind die, die Angst haben. Und damit alles deutlich schlimmer machen, als es sein müsste. "Alles inklusive" behandelt auf knapp 300 Seiten vier wundersame Lebens-, Leidens- und Liebesjahre eines Kindes und seiner kleinen Familie. Eine Familie, die dabei genauso auf der Suche nach sich selbst ist, wie jede andere frisch gebackene Familie auch. Eine aber, die bei dieser Findungsphase unter "Extrembedigungen" unweigerlich von allen möglichen Fremden beobachtet wird. Mit einem schwer kranken Kind, das auf die Hilfe vieler angewiesen ist, ist eine Familie keine Privatangelegenheit mehr, sondern ein Fall für Experten und Besserwisser. Machen die Chromosomen einen auf kompliziert, ist auch die Welt plötzlich eine komplizierte. Sie stellt sich an. Und muss Stück für Stück neu erobert werden. Von Prognosen und Wahrscheinlichkeiten In "Alles inklusive" gelingt es Mareice Kaiser, uns mit klarer, schöner Sprache und frei von Pathos an ihrer Geschichte teilhaben zu lassen. Der Handlungsstrang ist nicht chronologisch, umso runder ist die Darstellung und Auswahl zentraler Erlebnisse und Situationen. Der Leser begleitet die Kaisers von einer zwischen Zuversicht und leisen Vorahnungen taumelnden Voruntersuchung, bis hin in den Dezember 2015, dessen Verlauf man vor lauter Zuversicht kaum mehr erahnen konnte. "Alles inklusive" steckt voller wichtiger Fragen und Vorschläge an eine inklusive Gesellschaft. Es handelt von leichten Momenten und schweren Entscheidungen, von der ewigen Suche nach irgendwelchen Prognosen und Worten, die endlich erklären, was es ist, das da ist. Von durchgegoogelten Nächten, heißen Telefondrähten, Experten die einen zu Experten schicken, von Ärzten, die Mut machen, von Ärzten, die einen fragend zurück lassen, von Prognosen und Wahrscheinlichkeiten, Medikamenten und medizinischen Geräten, von Fortschritten und Rückschritten, von ätzenden Bürokratiemonstern, von Mutterwürde und Selbstfindung, dem Wieder-Arbeiten gehen, dem Los lassen von Erwartungen und dem Neu-Navigieren. Zwischen all den klaren, kaiserlichen Gedanken steckt auch immer wieder viel Poesie: »Es fällt mir immer leichter mit der Prognose für mein behindertes Kind zu leben. Greta muss nicht hüpfen können, um auf einem Hüpfburgfest glücklich zu sein. Sie muss nichts werden, es reicht, wenn sie einfach ist. Und ich bin mir sicher: Wenn wir ihr alle genug zutrauen – wir ihre Schwester es uns vormachte -, sie wird uns noch oft überraschen. Ohne Prognose, ohne Plan, einfach so.« Sie waren vorauszusehen, dennoch überraschen sie mich selbst: Meine Tränen irgendwo mitten im Buch. Sie finden ihren Weg aufs Papier, als ich beim Lesen mitgenommen werde auf eine verdammte Berg- und Talbahnfahrt. Dann nämlich, wenn Thorben und Mareice endlich wieder Leichtigkeit verspüren, als Paar, als Eltern, als Menschen, als unbändige Musikliebhaber. Sie besuchen ein Konzert, knutschen, lachen, verspüren Zuversicht und Normalität - siehst du es geht doch, sie scheinen ihren Weg in der Welt gefunden zu haben… …und in der nächsten Sekunden ist es, als habe sich diese ganze Welt gegen die kleine Familie verschworen. Dann nämlich als Greta wieder einmal wegen eines Infektes ins Krankenhaus muss. Und die Nerven blank liegen. Und sich der Vater in der Psychiatrie wieder findet. Weil er verzweifelt und hilflos war. Aber die Gesellschaft in Gestalt von Ärzten, Schwestern und Polizisten diese Verzweiflung als Gefahr gegen sich deutet. Die Familie bekommt Hausverbot. In einem Krankenhaus. Diese Episode im Buch ist eigentlich kaum zu fassen.
Durch Verfolgen von Mareices Blog und durch ein Interview mit ihr, kannte ich bereits einige Etappen aus "Alles inklusive", aber in dieser Geballtheit hat es mich dann doch tief bewegt. Und so geschieht genau das, was ich Mareice Kaiser und ihrer Familie wünsche: Dass es alle, die es lesen, bewegt und ihre Sichtweise schärft. Auf die Vielseitigkeit dieses Lebens. Nur in ihr können wir erahnen, wie viel Kraft in einem steckt. Wie viel Kampfgeist. Und vor allem: Wie viel unbändige und aufrichtige Liebe.
Für Mareice Kaiser und ihre Familie wurde Tochter Greta zu einem "Jackpot ihres Lebens". Und neben all der Traurigkeit, der Wut und den offenen Fragen bringt genau diese Feststellung von Mareice eine gute Nachricht für uns alle mit: Gretas Geschichte ist ein Jackpot. Und wir alle können etwas davon abhaben. Mareice Kaiser "Alles Inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter." S. Fischer Verlag Zum Kaiserinnenreich
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Was hier passiert
Erfahren Sie hier mehr über mich, meine aktuellen Projekte und hören Sie einfach mal wieder gute Musik. Neben Lesen ist sie eine meiner wichtigsten Inspirationen. Archiv
August 2020
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