Die Abendsonne verleiht den kugeligen Kacheldächern von Sevilla noch einen feierlichen Glanz zum Abschied. Ein schöner Tag, in einer schönen Stadt. Wir lassen die größte gotische Kirche der Welt, die Catedral de Santa María de la Sede, hinter uns und spazieren zurück zu unserem Bus.
Doch kaum versehe ich mich in eine weitere Sehenswürdigkeit, befinde ich mich plötzlich in den Fängen einer Wahrsagerin. Und obwohl sie mir nur zur Schulter reicht - egal wie ich mich auch wende, sie steht vor mir. Wie eine Stadtmauer aus engen Leggings und Türmen von Fett. Mit tief dunklen, funkelnden Augen versucht sie meinen Blick zu durchdringen. Meine linke Hand hält plötzlich getrocknetes Grünzeugs fest, das sie mir mit den Worten „Regalo regalo! Gratis! De Santa Maria!“ – also ein Gratisgeschenk von der heiligen Maria- zwangsgeschenkt hat. Meine rechte Hand befindet sich derweil in ihren Klauen. In der nun meine „Futuro-futuro!“ gelesen werden soll.
ABER NICHT MIT MIR! Kurzerhand wandert mein Blick zu Domo, dessen Zukunft bereits ebenfalls in den Händen einer Zigeunerin liegt, dann stiere ich der mittlerweile „bambini bambini“ prophezeienden, von ASTRO TV Abgesandten ebenfalls entschlossen in die Augen. Ich reiße meine rechte Hand los, greife mir ihre und eröffne feierlich: „So, meine Liebe, heute ist dein Glückstag: FORTUNA! FORTUNA! Jetzt werde ich dir mal deine futuro lesen. Na, nun zappel mal nicht so herum. Ich bin ziemlich gut darin. Vertraue mir. So so, schauen wir uns mal deine Lebenslügenlinien an. Aha, verstehe, verstehe. Interessant, interessant. Nun, ich sehe Kurioses auf dich zukommen: Bald schon, meine Liebe, wirst du als lebendiger Serrano in einer der besten Bodegas Sevillas hängen. Nein, nein, keine Sorge, du wirst nicht verspeist. Hübsch eingepackt in ein Netz, enger anliegend als deine Leggings, hängst du über der Theke dieser Bodega, sabbelnd und brabbelnd wie ein Papagei, und wirst so zu einer weiteren Sensation der Stadt: Der Plapperserrano von Sevilla!
Die Leute werden die überteuerte Copa ab sofort mit einem Lachen im Gesicht bezahlen. Fantastico, oder? Vorher aber sieht es leider nicht so rosig aus für dich. Ja. Ja. La vida, la vida, meine Liebe! Ein Sturm zieht auf. Ja, genau, inmitten der Fußgängerzone hier. Er wird nicht nur die tausenden Orangen von den sevillianischen Bäumen pflücken, sondern auch dein prallgefülltes Portmonaie in Luft auflösen. Deine ergaunerten Papierscheine wehen weit hoch – bis zum 70 Meter hohen Giralda Turm der Kathedrale. Und wie ich ebenfalls sehe, basteln sich die weißen Tauben daraus Malerhütchen, damit ihnen die Möwen nicht mehr auf den Kopf kacken. Lustig oder? Na, nun schau mal nicht so ernst. Ist doch wirklich erstaunlich. Eben noch kannte ich dich nicht, und jetzt schon weiß ich von Fingerkuppe zu Fingerkuppe mehr, wie schlecht es um deine Zukunft bestellt ist. Wie, ich soll deine Hand loslassen? Aber ich dachte du freust Dich! Wie, du willst nichts bezahlen? WAAAASSS! Das ist hier aber keine regalo: Du verstehen, nicht regalo, sondern B-E-Z-A-H-L-O!
Was für eine undankbare Kundin. Jetzt muss ich wohl doch mal laut werden. Da bemerke ich wie sich um uns herum Menschenmassen gebildet haben, halb beklemmt, halb fasziniert von diesem Schauspiel, starren sie uns an, während ich weiterhin rot sehe. Doch ich wittere meine Chance. Ich lasse die Hand der Zigeunerin los, da von ihr kein Pfifferling zu erwarten ist – mein geliebter Domo hatte ihren Gaunerbeutel während meiner Zukunftsprozession längst geplündert– und ziehe mein eigenes, leider Gottes leeres Portmonaie heraus. Ich lasse es durch die Zuschauermassen wandern. Solange, bis keine Scheine mehr reinpassen. Ein wirklicher guter Tag. Der Tag in Sevilla.
Natürlich ist das alles nur Quatsch mit etwas Zigeunersoße. Also, bis auf den ersten Absatz. Der endet jedoch damit, dass wir der tratschenden und antatschenden Tante ihr verlangtes Geld gaben. Weil wir sonst immer noch in Sevilla stünden. In der einen Hand ein paar Zweige heiligen Gebüsches, in der anderen eine lügende Wahrsagerin.